Museum der Wahnsinnigen Schönheit
„Entartung"



Von zentraler Bedeutung für die Legitimation der „Euthanasie" seitens der Täter war die Begrifflichkeit der „Entartung". Im folgenden soll auf dessen historischen Hintergrund und dessen Wirkung näher eingegangen werden. Als Medium zur Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen und schließlich deren Ermordung ist eine Annäherung an die Denkweise in „Entartung", deren „positives" Pendant das „Völkische", „Arische" war, für die Ausgestaltung der geplanten Gedenkstätte von grundsätzlicher Bedeutung.

Mit der Evolutions- und Selektionstheorie Charles Darwins im 19. Jhdt. wurde eine neue wissenschaftliche Perspektive im Hinblick auf die Erklärung der Entwicklung des Menschen als Gattung eröffnet. War man bis dato von der Exklusivität des Menschen als Träger geistig-seelischer Kompetenz ausgegangen, wurde dieses Selbstverständnis nun relativiert und eingereiht in die Herausbildung aller Gattungen im Rahmen der Naturgeschichte. Darwins anthropologischer Ansatz eröffnete das Betätigungsfeld der Vererbungslehre, welche als Eugenik bedeutend wurde. Charakteristisch für die Eugenik war die Verknüpfung wissenschaftlicher Arbeit mit Werturteilen der Träger dieser Forschung, dem akademischen gehobenen Mittelstand und dessen Oberschicht. Dreh- und Angelpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung war die Frage, inwieweit erworbene Eigenschaften vererbbar seien oder eben nicht. Eng verbunden mit dieser Fragestellung war der Glaube an Fortschritt in der Menschheitsgeschichte, so unterschiedlich dieser Fortschritt auch verortet wurde.

Bei Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften bestand die Aussicht auf „Veredelung" des Menschen. Würden diese nun nicht in der Generationsfolge weitergegeben, entstand eine völlig neue Sicht auf die Welt. Strittig war in diesem Zusammenhang die Determination der Trennungslinie zwischen erworbenen Eigenschaften und biologisch-selektiv bestimmter Vererbung. Es kam zu der Überzeugung, das ausschließlich physische Eigenschaften vererbbar seien; in der weiteren Entwicklung wurden immer weitergehende Bereiche der menschlichen Existenz diesem physisch-biologischen zugeordnet. Diese These seitens der Wissenschaft fiel zusammen mit Industriealisierung, Verstädterung, mit gesellschaftlichem Umbruch und den damit entstehenden sozialen Problemen, so die Verelendung ganzer Bevölkerungsschichten. In politischer, soziologischer und philosophischer Hinsicht suchte man nach Erklärungen und Handlungsmöglichkeiten.

Der Glaube an eine zunehmende Dekadenz und Verwahrlosung der Gesellschaft war gegen Mitte und Ende des 19. Jhdts. weit verbreitet, angesichts des nicht zu übersehenden Massenelends. Während man seitens der Arbeiterbewegung und der entstehenden Sozialdemokratie und z. T. auch in eher konservativen, christlich-humanistischen Kreisen die Ursache für diese Verelendung in den ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen sah, entwickelte sich in der akademischen Mittel- und Oberschicht die Auffassung, daß es sich bei den oft dramatischen sozialen Zuständen um eine biologische Degeneration, der „Entartung" handele. Diese sei zustandegekommen durch den zivilisatorischen Eingriff des Menschen in das Selektionsgeschehen der Natur. Hätte man diesem Geschehen freien Lauf gelassen, so die These, wären nur „starke", umfassend „intakte" Individuen überlebensfähig. Durch die menschliche Manipulation, sprich Sozialgesetzgebung, Fürsorge, medizinische Versorgung etc. hätte eine „negative Auslese" stattgefunden, d. h. an sich nicht überlebensfähige Individuen hätten das genetische Potential der Gattung Mensch mit überlebensuntauglichem Erbmaterial „geschädigt".

Galten nun erworbene Eigenschaften als nicht vererbar, so folgte daraus die Irrelevanz politisch-sozialer Maßnahmen zur Behebung der Problematik, vorausgesetzt, man hatte als Ideal ein harmonisch-gesundes Gesellschaftsganzes im Auge und nicht das Wohl des Individuums. Hier werden getroffene Wertungen deutlich, die sich nicht aus genetisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen ergaben, sondern mit diesen vermengt wurden. Dies war zum einen das Überordnen des Kollektivs über das Einzelinteresse, zum anderen die Abwertung geistiger oder körperlicher Behinderung, psychischer Erkrankung und der Epilepsie, und auch die Abwertung sozialer Abweichung vom Ideal der akademisch-gehobenen Lebensführung. Diesen von naturwissenschaftlicher Erkenntnis unabhängigen Wertungen wurde ein biologistisches Erklärungsmuster übergestülpt. Das vom bürgerlich-konservativen Selbstverständnis Abweichende wurde als „Entartung" denunziert, so z.B. auch der weitverbreitete Alkoholismus.

Wiedergutmachung der angeblich durch menschliches Eingreifen entstandenen biologischen Entgleisung erhoffte man durch gegenläufige Maßnahmen der „positiven" Eugenik, d. h. durch Förderung der Zeugungsbereitschaft „wertvoller" Gesellschaftsmitglieder. Der diesbezügliche Maßnahmenkatalog umfaßte, je nach politischer Radikalität, ein weites Spektrum, von der o. g. „positiven" Förderung bis hin zu rigorosen Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen.

Diese gesellschaftliche und wissenschaftliche Entwicklung traf zusammen mit einem bereits vorhandenen, mehr oder weniger offenen Rassismus, wie er sich insbesondere mit der Kolonialisierung herausgebildet und verfestigt hatte. Auch das rassistische Vorurteil ging nun eine unselige Verbindung ein mit der Herausbildung der Humangenetik als Wissenschaft, der Vererbungslehre. Über die rassistische Schiene wurde für die konstatierte Degeneration die „Rassenvermischung" verantwortlich gemacht, die „Rassenhygiene" bildete sich als pseudowissenschaftlicher Zweig der Medizin, der Hygiene, heraus. Die Anthropologie an sich, die Feststellung, daß es Menschen unterschiedlicher Hautfarbe gibt und die sich im angelsächsischen Raum herausbildende Kulturanthropologie implizierten nicht notwendigerweise eine Wertung oder überhaupt eine Wichtignahme dieser Unterschiede. Diese Wertungen waren bei den Trägern wissenschaftlicher Arbeit bereits vorhanden, flossen in diese ein und verfestigten sich, um als deren Output als neue wissenschaftliche, „objektive" Erkenntnis Einfluß zu nehmen. Die brisante Mischung aus genetischer Forschung und Rassismus gipfelte späterhin in der Verkündigung der wissenschaftlichen „Wahrheit", es hätte vor dem Sündenfall der „Rassenmischung" ein „arisches" Goldenes Zeitalter gegeben. „Arische", „völkische" „Natur" war das der diagnostizierten Degeneration gegenübergestellte Ideal.

Dieses Ideal war keine stringente Vorstellung, sondern entwickelte sich aus einem Spektrum unterschiedlicher, aber doch auch ähnlicher Begriffswelten heraus und reichte von schwärmerischem Naturfreundetum bis hin zur Stilisierung des aggressiven, „nordischen" Hünen. Aus diesen Begriffswelten heraus wurde die destruktive Polarität Natur - Entartung gebildet, denn „war doch die Fiktion eines prähistorischen ‘arischen’ Großreichs maßgeblich für das ‘völkische’ Bild vom Naturzustand, und nicht etwa das Leben von Eingeborenenvölkern; in ihnen wollte man später entstandene Geschöpfe des Niedergangs sehen"1. Dieser vermeintliche Niedergang sollte nun durch Zucht unter Berufung auf die Vererbungslehre langfristig behoben werden. Diesem Zweck diente auch die Blutgruppenforschung, denn auch in die unterschiedlichen Blutgruppen interpretierte man ein „Rassenmerkmal" hinein. Diese Unterstellungen radikalisierten sich in der Blut- und Bodenideologie des Nationalsozialismus.

Es läßt sich also feststellen, daß mit dem ausgehenden 19. Jhdt. die durch die Industriealisierung bedingten gesellschaftlich-sozialen Veränderungen in weiten Teilen der Bevölkerung im Deutschen Reich als Degeneration gedeutet wurden, verbunden mit einer empfundenen Bedrohung der persönlichen Lebenswelt. Die Erklärung für diesen vermeintlich dekadenten Zustand der Gesellschaft wurde in genetisch-biologischen Zusammenhängen gesucht und, vorurteilsbehaftet wie diese Suche war, von den zuständigen Forschern gefunden und als „objektive" Wahrheit etabliert.

Die soziale Lage weiter Bevölkerungsteile war, wie bereits erwähnt, zu dieser Zeit katastrophal: lange Arbeitszeiten, Kinderarbeit, kaum medizinische Versorgung etc.. Die akademische Elite sah ihre Lebenszusammenhänge durch das Massenelend gefährdet, und auch durch die von der Arbeiterbewegung eingeforderten politischen Veränderungen. Das biologistische Erklärungsmuster für soziale Mißstände bot einen Anker in der allgemeinen Beunruhigung. Über dieses konnten die bessergestellten Bevölkerungsschichten sich nicht nur als sozial, sondern auch als biologisch überlegen definieren. Dieses identitätsstiftende Angebot erwuchs auch aus dem Rassismus, welche den Westeuropäer in der biologistischen Hierarchie ganz oben ansiedelte.

Das biologistische Weltbild lieferte zugleich auch die Legitimation für die Ablehnung politischer Veränderung zugunsten der schlechtgestellter Schichten, da diese Veränderung in dieser Logik nämlich das Gegenteil des erhofften Resultats - allgemeine Verbesserung der Lebensbedingungen - bewirken würde, nämlich die weitere, fortschreitende Verschlechterung derselben, welche vom biologistischen Lager mit „Entartung" ineinsgesetzt wurde; eine Behauptung, die die Annahme der Nicht-Vererbung erworbener Eigenschaften voraussetzte. Die Biologisierung sozialer Tatbestände fand also zunächst in den Reihen der mit Anthropologie und Genetik befaßten akademischen Eliten statt, unter Verknüpfung sozialen Interesses mit naturwissenschaftlicher Neugier. Das Resultat dieser Koalition, die Ergebnisse eugenischer Forschung, gelangte als „objektive" Gegebenheit in das Weltverständnis weiter Teile der Bevölkerung.

Die Herausbildung eugenischer und „rassenhygienischer" Sichtweisen erschließt sich also nicht aus der Geschichte genetischen Wissenszuwachses an sich. Die rassistischen Ausfälle und Tendenzen, der Sozialdarwinismus mit all seinen Implikationen, erklären sich nicht aus den Prämissen des Darwinismus oder Mendelsonismus selbst. Es bedurfte der Existenz rassistischer und sozialer Vorurteile, um die spezifische Mischung aus Biologie, Medizin und Soziologie hervorzubringen, innerhalb deren Rahmen diese Vorurteile systematisiert und verfestigt wurden. Hätte man für die sozialen Mißstände nicht fehlgesteuerte „Natur" i. d. S., also nicht die Gene verantwortlich gemacht, sondern gesellschaftliche Zusammenhänge, hätten sich für die Besitzstände der gehobenen Mittel- und Oberschicht, damit auch für Biologen und Mediziner, bedrohlich erscheinende Handlungsperspektiven ergeben, wie sie auch in der politischen Auseinandersetzung formuliert wurden.

Im weiteren soll auf die Frage eingegangen werden, auf welche Tatbestände sich diese sozialen Vorurteile im einzelnen bezogen. Dieser Aspekt der Entwicklung im Deutschen Reich hin zum Faschismus ist von besonderer Wichtigkeit für die geplante Gedenkstätte, da hier Wurzeln liegen für die spätere Kategorisierung der Opfer im Zusammenhang mit der „Euthanasie".

Auf die Feststellung, daß es sich bei der diagnostizierten „Entartung" um Werturteile und nicht um wissenschaftlich fundierbare Fakten handelte, deuten bereits die Schwierigkeiten hin, die bei dem Bemühen um empirische Verifizierbarkeit dieser Behauptungen entstanden. Falsifiziert konnten diese ohne weiteres werden, nämlich durch die Beobachtung der Entwicklung eines vormals deprivierten Menschen bei ausreichender sozialer und medizinischer Versorgung. Nur zielte das Forschungsinteresse offensichtlich in eine andere Richtung, nämlich hin zum versuchten empirischen Nachweis der vermeintlichen „Entartung". Der Glaube an eine physische und intellektuelle Dekadenz war, wie bereits angesprochen, im ausgehenden 19. Jhdt. weit verbreitet. Die Verstädterung, Phänomen der Industriealisierung, wurde von weiten Teilen der Bevölkerung als ausgesprochen negativ erlebt.

Vor diesem Hintergrund entstand also das Bedürfnis, biologische Kategorien auf gesellschaftliche Gegebenheiten zu übertragen. Ein Ansatz, dessen empirischer Beleg keinem der ihn vertretenden Wissenschaftler gelang. Trotz zahlreicher statistischer Versuche scheiterten die Eugeniker an der Frage, welche Sachverhalte nun im einzelnen Indiz für den konstatierten Niedergang sein sollten oder anders gesagt, wie nun das angeblich auf der Darwinschen Selektion basierende Optimum definiert und gemessen werden könne. Als Indikator für Dekadenz mußte u. a. die angeblich mangelhafte „Stillfähigkeit" junger Mütter herhalten. Aber auch diese Versuche führten nicht zu dem gewünschten empirischen Nachweis der „Entartung".2 Statistische Verfahren wurden über Jahre hinweg kontrovers diskutiert, ohne daß die ersehnte empirische Fundierung der Degenerationsthese erbracht werden konnte. Zweierlei sollte also bewiesen werden: zum einen, daß die behauptete Degeneration tatsächlich vorhanden war, zum anderen, daß diese biologische Ursachen hatte.

Zur Untermauerung der Degenerations-These wurde die angebliche Zunahme psychischer Erkrankung und Behinderung überhaupt bemüht. Nun blieb es aber fraglich, ob tatsächlich eine Zunahme derselben vorlag und natürlich auch, ob die Existenz von Behinderung und psychischer Krankheit Merkmale einer Degeneration sein konnten. Letzteres warf die Eugeniker immer wieder auf den Vorurteilscharakter ihrer Theoriegebilde zurück, zum Nachweis des ersteren fehlten die statistischen Möglichkeiten, was das Bedürfnis nach vollständiger statistischer Erfassung der Bevölkerung seitens der Eugeniker motivierte. Das Erhebungsinteresse zielte hier ausdrücklich auch auf das Fortpflanzungs- und Sexualverhalten des Einzelnen. Hier erhob die Wissenschaft Anspruch auf Zugriff auf bis dato intimste Bereiche der menschlichen Existenz, welcher dann im Nationalsozialismus real umgesetzt wurde, bekanntermaßen nicht mit dem Resultat eines empirischen Nachweises der Degenerationsthese, sondern in schrankenloser Destruktivität und Vernichtung kulminierend.

Auf der Suche nach einer genetischen Grundlage für Alkoholismus, Kriminalität, Prostitution stieß man auf keinerlei statistische Signifikanz. Auch das Auftreten von Psychosen schien keiner erbbiologischen Gesetzmäßigkeit zu unterliegen. Hier bekam die „Familienkunde", späterhin „Sippenforschung", ihre Relevanz. In diesem Rahmen schien eine Häufung von Psychosen, Alkoholismus und anderer sozialer Abweichung innerhalb der Generationenfolge einer Familie nachweisbar, aber eben nicht nach einer biologisch-genetisch irgendwie begründbaren, regelhaften Abfolge. Alkoholismus, Kriminalität und Prostitution wurden nun nicht nur seitens der Eugenik - und von dieser als „moralische Degeneration" - thematisiert, sondern auch im Rahmen der politisch-sozialen Debatte. Dort stellte man diese Phänomene nicht einhellig in eine logische Reihe mit psychischer Erkrankung, Epilepsie oder Behinderung. Diese Zusammenziehung von Bereichen, die traditionell der sozialen Auseinandersetzung zugeordnet wurden mit Zuständigkeiten der Medizin bzw. Psychiatrie wurde von der Eugenik vollzogen, unter dem gemeinsamen Nenner der genetischen Bedingtheit. Diese zutiefst biologistische Denkweise reduzierte die gesamte Existenz auf Erbfaktoren, Blutgruppen etc.. Der vermeintliche Untergang wurde als mathematikhafte Notwendigkeit heraufbeschworen, würden die „Selbstheilungskräfte der Natur", die Selektion, weiterhin durch zivilisatorische Eingriffe behindert.

'I'rotz der Unmöglichkeit der empirischen Fundierung dieser Thesen gelangten diese zu wachsender Popularität. Dieser die Wissenschaftlichkeit der These untergrabende Makel, d. h. die empirische Nicht-Nachweisbarkeit, wurde kompensiert durch die Konkretisierung des am anderen Ende dieser Degenerationsskala stehenden Fixpunktes, das vollkommene Produkt der ungehinderten „natürlichen" Auslese: der „arische" Übermensch. Diesen esoterischen Phantasiegebilden wurde mehr oder weniger aggressiv in Kulturerzeugnissen, wie in Malerei und Plastik, gehuldigt. Landkommunen zum Zweck der „aufrassenden" Menschenzüchtung wurden propagiert. „Zurück zur Natur" war das Motto, wobei „Natur", mehr oder weniger konkret, identisch gesetzt wurde mit einem vermeintlichen „nordischen" Urzustand3.

Die Moderne, mit ihrer Präsenz in Kunst und Literatur, wurde als Inkorporation des Niedergangs verworfen. Die eingeforderte „Erneuerung des Menschen" bildete keinen einheitlichen Ideenkomplex. Die konsequente Orientierung an der vermeintlichen „natürlichen Selektion" widersprach nicht der von der Wissenschaft reklamierten Rationalität, sondern repräsentierte innerhalb dieser Logik eben gerade den Sieg dieses Ratios über menschliche Irrationalität, sprich i. d. S. über „Verweichlichung". Der Kult um die „vollkommene Art" des Menschen und die implizite Diagnose der „Entartung" wurde seitens der Wissenschaft nicht als solcher wahrgenommen, d. h., dieser Mythos als Basis eugenischen Denkens erschien nicht als solcher, sondern im Gegenteil als „objektiver", wissenschaftlicher Erkenntniszuwachs.

Entscheidender Aspekt dieser Sehnsucht nach „Erneuerung" war eine ausgeprägte Abneigung gegen den Individualismus wie er im demokratischen Selbstverständnis vorausgesetzt wird. Insofern wurden zeitgenössische demokratische Bewegungen als Wegbereiter der Degeneration diffamiert. Der Vorstellung von verantwortlichen, sich wechselseitig anerkennenden Individuen wurde die Ideologie des „Volksganzen" entgegengesetzt. Nur im Kollektiv könne die „arische Vollkommenheit" zu voller Blüte gelangen, was die Negation von Individualbedürfnissen implizierte. Der quasi-sakrale Traum von der völkischen Herde war die Quintessenz der sich auf genetische Erkenntnisse berufenden Weltbeglückungstheorie. Diese Trivialisierung Darwinscher Thesen band die weitverbreiteten Ängste, die mit der fortschreitenden Auflösung traditioneller Lebenszusammenhänge im Zuge der Industrialisierung frei wurden. Der kurze demokratische Versuch der Weimarer Republik aktivierte dessen Gegner und spitzte die Bedürfnisse nach trance-artiger Selbstvergessenheit in einem „Volkskörper" auf aggressive, gewaltsame Vernichtung des Individuums zu.

Die mit der Eugenik befaßten Wissenschaftler waren mit der Furcht vor Dekadenz behaftet und setzten als Wertmaßstab das „gesunde Volksganze". Diese weltanschauliche Ausrichtung, welche die Eugeniker mit vielen ihrer Zeitgenossen teilten, wurde gerade durch die Eugenik auf den Sockel unantastbarer „Wahrheit" gehoben. Hier zeigt sich die Interessengebundenheit von Wissenscnaft. „Mit ihrer Orientierung am Genpool relativiert die Eugenik den Wert der selbstbestimmten und unveräußerlichen Individualität. Die Entwicklung dieser Wissenschaft ist deshalb ein herausragendes Beispiel für die inhärente Verschränkung von Wissen und Werten. Die erst mit der neuzeitlichen Wissenschaft vollzogene Unterscheidung zwischen wertfreiem Erkenntnisgewinn und ethischer wie politischer Bewertung hat diese Verschränkung verschüttet und die Illusion vom objektiven, ‘gesicherten Wissen’ geschaffen .... Daß aber auch in neuen wissenscnaftlichen Erkenntnissen Wertsetzungen enthalten sind, bleibt meist unentdeckt."4
 

Die mit dem Prozeß der Aufklärung verbundene Rationalisierung der menschlichen Existenz wurde mit der Eugenik ausgedehnt auf den Bereich der Fortpflanzung. Bereits im 18. Jhdt. wurde die Bevölkerungspolitik relevant zur Steuerung der epochalen Umwälzungen in der Produktion, d. h. auch im Arbeitsleben. Die Eugenik erweiterte den Zuständigkeitsbereich auf das Sexualleben im Namen der „Erbgesundheit". Das Interesse des Individuums wurde dem Plansoll optimierter Produktion und Reproduktion untergeordnet. Unter dem Dach des zu definierenden Optimums bündelten sich der funktionalisierten Vernunft nicht einfügbare extatische destruktive Impulse, welche nicht in Form einer durch Umstrukturierung notwendig gewordenen Umorientierungsleistung integriert wurden, sondern sich aller wissenschaftlicher Mängel zum Trotz zu einem rassistischen, wahnhafter Vorstellungen von Gesundheit verhafteten, Ideologie-Gebäude auswuchsen. „Indem es der Wissenschaft gelang, ihre Sicht der Welt allgemeinverbindlich zu machen, den Staat dafür zu gewinnen, die sich aus dieser Sicht ergebenden Maßnahmen zu sanktionieren oder gar selbst durchzuführen, wurde die ethische Kontrolle über wissenschaftliche Erkenntnis und ihrer Anwendung in dieses System hereingenommen. Die Ehtik wurde so auf doppelte Weise internalisiert.... Die Frage lautete nicht mehr, ob rassenhygienische Maßnahmen mit den Werten der Menschenwürde vereinbar waren, sondern ob sie wissenschaftlich auf dem ‘letzten Stand’ und mithin durch Wissen zu begründen waren"5.

Aus der sozialen Misere des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jhdts. kristallisierte sich im Deutschen Reich also eine Anschauung mit sakralem Charakter heraus, ein Mythos der „edlen Art", deren Gegenpol, die „Entartung" mit den negativen Folgen der sozio-ökonomischen Umstrukturierung identifiziert wurde. Im jeweiligen historischen Kontext unterschiedlich bearbeitete Durchbrechungen der Funktionalität, wie die Psychose, die Epilepsie oder Behinderung wurden ebenfalls in diesen Mythos von der „Entartung" eingebunden. Die Wissenschaft fungierte hierbei als sinnstiftende,
ordnende Macht, d. h. sie transformierte diffuse, außerhalb des Bezugsrahmens der Vernunft liegende Impulse zu einem scheinbar rationalen Gedankengeflecht. Georges Bataille nennt diese Impulse in seiner Untersuchung zum Faschismus das „Heterogene", welches durch die Systematisierungsleistung der Wissenschaft in das „Homogene" der mit sich selbst identischen Vernunft überführt wurde; „Der Terminus des Heterogenen zeigt an, daß es sich um Elemente handelt, die nicht zu assimilieren sind; und diese Grenze sozialer Assimilation ist zugleich auch eine der wissenschaftlichen Assimilation.

Beide Formen der Assimilation haben eine und diesselbe Struktur: die Wissenschaft hat zur Aufgabe, die Homogenität der Phänomene zu begründen"6. Der sakrale, mythenhafte Charakter eugenischer Behauptungen wurde durch diese Überführung in das Reich der Wissenschaft nicht mehr als solcher kenntlich und bereitwillig übersehen. Somit erweist sich die Wissenschaft -am Beispiel der Eugenik -, als Inkarnation der Rationalität, der Vernunft etabliert, selbst als mythenbehaftet, als Träger von Irrationalität. Der Mythos von „Erbgesundheit" und von „Rasse", als vernünftig und faktisch wahr deklariert, unternahm den Versuch der Vernichtung der Moderne, unter Absorption des aggressiv-destruktiven Potentials der Gesellschaft.

Diese Entwicklung folgt nicht zwangsläufig aus der ökonomischen Krise, von der nicht nur das Deutsche Reich betroffen war, sondern ebenso alle anderen Industrienationen. Es bedurfte weiterer Faktoren zur Etablierung des nationalsozialistischen Staates, der nicht nur seine Legitimation aus diesen Mythenbildungen bezog, sondern das Sakrale selbst war sein explizites Charakteristikum. „Das nationalsozialistische Deutschland, das sich nicht auf den Hegelianismus und dessen Theorie des Staates als Weltgeist berufen hat, wie es das faschistische Italien offiziell ... tat, hat die theoretischen Schwierigkeiten nicht gekannt, die sich aus der Notwendigkeit ergeben, offiziell ein Prinzip der Autorität formulieren zu müssen: einerseits hat sich die mystische Idee der Rasse unmittelbar als imperatives Ziel der neuen faschistischen Gesellschaft durchgesetzt; andererseits erscheinen der Führer und die Seinen als ihre leibhaftige Verkörperung. Wenn auch dem Rassebegriff eine objektive Grundlage fehlt, so ist er doch subjektiv begründet, und das Bedürfnis, als höchsten Wert die Rasse zu behaupten, hat von einer Theorie weggeführt, die den Staat zum Prinzip jeden Wertes macht." 7

An der Eugenik als Wissenschaft wird exemplarisch deutlich, daß dem Anspruch der Aufklärung, der Vernunft selbst, Wertsetzungen innewohnen, denen eben diese zu entgehen sich bemühte, daß also das Ineinssetzten von Vernunft mit Funktionalität selbst einen Akt der Wertsetzung darstellt. Die spezifische Mythenbildung im Deutschen Reich soll im Rahmen der geplanten Gedenkstätte detailliert untersucht werden, unter Aufarbeitung der relevanten Faktoren, in dem Bewußtsein, daß eine abschließende Erklärung und Deutung nicht möglich ist, sondern daß die Gesellschaft sich bezüglich ihrer ethischen Normsetzungen immer wieder aufs neue Rechenschaft ablegen sollte.



Fußnoten

1) Reinhard Merker, Die bildenden Künste im Nationalsozialismus, Kulturideologie,
Kulturpolitik, Kulturproduktion, Köln 1983, S. 80

2) vgl. Peter Weingart, Jürgen Kroll, Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene,
Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland,
Frankfurt a. M. 1992, S. 75

3) vgl. Reinhard Merker, a. a. O., S. 24

4) Peter Weingart, Jürgen Kroll, Kurt Bayertz, a. a. O., S. 16

5) ebd., S. 320

6) Georges Bataille, Die psychologische Struktur des Faschismus, in:
Die psychologische...., Die Souveränität, München 1978, S. 14

7) ebd., S. 36/37

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